Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss

Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss

„Eine junge weiße Stirn, die durch die Dunkelheit drang. Ein elfjähriges Mädchen. Siss.
Es war eigentlich erst Spätnachmittag, aber schon dunkel. Hartgefrorener Spätherbst. Sterne, aber kein Mond und kein Schnee, also auch kein Lichtschimmer – dichte Dunkelheit, trotz der Sterne. Zu beiden Seiten totenstiller Wald – mit allem, was zu dieser Zeit darin leben und frieren mochte.
Siss hatte viele Gedanken, wie sie da ging, eingemummt gegen den Frost.“

So beginnt die Geschichte von Siss, die mit ihren Eltern schon lange in dem kleinen norwegischen Dorf lebt und Unn, einem gleichaltrigen Mädchen, das als Waise bei ihrer Tante lebt und in Siss‘ Klasse geht.
Unn hält sich in der Klasse abseits, Angebote, sich zu integrieren, lehnt sie ab. Aber sie war „keine arme Verlorene“. Auf dem Schulhof stehen sich Unn und Siss gegenüber wie „zwei Parteien, doch ging das still vor sich, es war eine Sache zwischen Siss und dem Neuankömmling. Wurde mit keinem Wort erwähnt.“

Offensichtlich gibt es da eine noch nicht greifbare und damit auch nicht benennbare Anziehungskraft zwischen den beiden Mädchen. Bis dann eines Tages ein Zettel auf Siss‘ Pult liegt:
„Will dich treffen, Siss.
Unterschrift : Unn
Ein Strahl von irgendwoher.“

Und so begibt sich Siss noch am gleichen Abend auf den Weg zu Unn. Sie verbringen den Abend miteinander, sind sichtlich irritiert ob der Anziehungskraft zwischen ihnen, so dass Siss beinahe fluchtartig das Haus verlässt und sich auf den Heimweg macht.
„Siss blickte zurück, bevor sie loslief. Unn stand in der erleuchteten Türöffnung und war schön und seltsam und scheu.“

Da wissen beide noch nicht, dass es bei diesem einen Treffen bleiben wird. Denn morgens nach dem Weckruf der Tante wird Unn klar, dass „sie Siss auf keinen Fall schon wieder begegnen konnte, nur ein paar Stunden nach dem quälenden Abschied. Sie hatte Siss so erschreckt, dass sie geflohen war. Unmöglich sie gleich wieder zu treffen! Unmöglich, heute zur Schule zu gehen.“

Sie schwänzt die Schule und will sich im Verborgenen halten, bis sie wieder nach Hause gehen kann.
Danach wird Unn nicht mehr gesehen.

Eine ausgiebige Suchaktion, in die das gesamte Dorf einbezogen ist, beginnt, als klar wird, dass Unn nicht in der Schule war, aber auch nicht nach Hause gekommen ist.

Gleichzeitig erzählt der Autor sehr einfühlsam und nachvollziehbar von den inneren Qualen Siss‘, die an eine Mitschuld glaubt. Das stürzt sie in eine tiefe Krise, in der sie aber begleitet wird, von ihren Eltern, dem Lehrer den MitschülerInnen und anderen Personen.

Es ist ein wunderbar zarter Roman über eine besondere Mädchenfreundschaft und eine noch funktionierende Dorfgemeinschaft mit zahlreichen spannenden Naturbeschreibungen, in denen sich oft die seelischen Begebenheiten der Personen spiegeln. Vesaas´ Beschreibungen des Eis-Schlosses sind derart detailliert, kenntnisreich und faszinierend, dass man glauben könnte, man sei selbst auf dem Weg in dieses Eis-Schloss.

Und mit dem von niemandem beobachteten Einsturz des Eisschlosses endet dann auch der Roman, mit einem offenen Ende, dass dennoch Gewissheit vermittelt:
„Niemand kann Zeuge sein, wenn das Eis-Schloss einstürzt. Es geschieht in der Nacht, wenn alle Kinder im Bett sind.
Niemand ist so tief verwickelt, dass er dabei sein kann. Es mag schon sein, dass eine Welle von lautlosem Chaos die Luft in weit entfernten Schlafkammern erschüttert, aber niemand wird davon geweckt und fragt: Was ist das?
Niemand weiß es.
Jetzt wird das Schloss vom Wasserfall mitgerissen, mit Geheimnissen und allem. Es geht hart zu, und dann ist es nicht mehr.“

Die Originalausgabe dieses Romans erschien 1963 in Norwegen, für den Tarjei Vesaas im darauffolgenden Jahr den Preis des Nordischen Rat bekommen hat. Mir hat der Roman wirklich gut gefallen, trotz oder gerade wegen der Naturbeschreibungen, mit denen man mich normalerweise „jagen“ kann.

Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss, Roman, a.d. Norwegischen v. Hinrich Schmidt-Henkel, 5.Aufl. München 2023, 201 S. ISBN 978-3-423-14818-4

8 Gedanken zu „Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss

  1. Danke für diese interessante und gar nicht unterkühlte Besprechung.
    Dass ein Roman, der 1963 erschien, auch heute noch aktuell ist und begeistern kann, finde ich toll.
    Lieben Gruss,
    Brigitte

    1. Selbst meine MitleserInnen in einem Literaturzirkel waren, bis auf einen davon angetan. Ihm war – wie bei fast allen Lektüren – der Aufklärungsimpuls nicht deutlich.
      Ich erwarte für mich das so nicht.
      Liebe Grüße

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