Viktoria Lloyd-Barlow, All die kleinen Vogelherzen

Viktoria Lloyd-Barlow, All die kleinen Vogelherzen

Die Autorin bezeichnet sich selbst als autistische Person, die in ihrem Roman „All die kleinen Vogelherzen“ die LeserInnen mit in die Welt der autistischen Protagonistin Sunday nimmt, die mit ihrer sechszehnjährigen Tochter Dolly in ihrem Elternhaus lebt, das sie nach dem Tod ihrer Eltern bezogen hat.

Sunday lebt sehr zurückgezogen, ist nicht gern in menschlicher Gesellschaft, weil sie die Menschen, ihre Gefühle, ihre Art zu sprechen nicht adäquat meint lesen zu können. Ihr Begleiter ist das Buch Benimmregeln für Damen; ein Ratgeber für gesellschaftliche Anlässe aller Art, 1959 von Edith Ogilvy verfasst -, das sie immer dann zu Rate zieht, wenn sie nicht weiß, wie sie sich anderen Menschen gegenüber zu verhalten hat. Allein mit ihrem Arbeitskollegen in der Gärtnerei versteht sie sich lautlos, denn der redet nur in der Gebärdensprache. Sie genießt diese Gemeinschaft in der Stille, das Arbeiten in und mit der Natur in einer Gärnterei.
Sie ist froh, als Erwachsene leben zu können, wie es ihr gemäß. Denn immer wieder bemerkt sie, dass sie anders ist und auch isst. Es gibt Tage, da sie nur weiße Nahrung zu sich nehmen kann und will.

„Für mich bedeutet es eine kleine, aber tiefgehende Freude, dass ich als Erwachsene jeden Tag selbst entscheiden kann, ob ein Ei sich als weiß und damit essbar qualifiziert, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ohne dass man mir sagt, ich mache mich lächerlich. Dass ich hysterisch bin, nach Aufmerksamkeit giere und ignoriert werden muss, bis ich etwas in mich hineinzwinge, das von brutalter Farbe ist.“

Immer wieder ist greifbar, wie sehr sie – vor allem in der Vergangenheit, als ihre Eltern noch lebten, die Mutter ihr immer wieder sagte, sie habe nie Kinder haben wollen – sich unverstanden und ausgegrenzt fühlt, wenig Geborgenheit erlebt. Nur das Verhältnis zu ihrer pubertierenden Tochter scheint ungetrübt zu sein, bekommt aber leicht spürbare Risse, die Sunday zunächst nicht wahrhaben will. Für sie soll und muss alles so bleiben, wie es ist, denn jede Veränderung ruft Ängste in ihr hervor.

Und da zieht eines Tages, ohne Vorankündigung die völlig unkonventionelle, schrille, extravagante und außergewöhnlich gekleidete Vita mit ihrem Mann und einem kleinen Hund ins Nachbarhaus ein:

„Als meine Augen sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, sah ich nebenan auf dem Rasen nebenan eine kleine, dunkelhaarige Frau liegen. … Es berührte mich unmittelbar, wie sie da lag, nicht ahnend, dass ich sie anstarrte, Arme und Beine in einem Maße von sich gestreckt, dass es unnatürlich wirkte; als wäre sie aus beträchtlicher Höhe herabgestürzt oder von jemandem bewusstlos dort drapiert worden. Mit bot sich das Vergnügen der Beobachtung ohne die Ambivalenz von Blickkontakt, der seinen Preis hat und trotzdem immer undurchsichtig bleibt.“
Sunday beobachtet die Frau, bis diese aufwacht, ins Haus geht und dann – einfach so – an ihrer Haustür klingelt:

“ ‚Ich bin – noch – nicht ganz wach!‘ sagte sie.
Noch. Nicht. wiederholte ich stumm. Noch. Nicht.
Ich ahme ständig die Aussprache anderer Leute nach und habe gelernt, dies möglichst für mich zu behalten. Ich klopfe gerne die Silben mit und zeichne sowohl die Betonung als auch die Weichheit nach. Im Gespräch höre ich aufmerksam zu; diese Übung beschützt mich seit meiner Kindheit vor Augen, die in Unterhaltungen oder bei Begrüßungen nach meinen suchen.“

Und im Stillen sucht sie nach einem Hinweis, wie sie mit der noch Unbekannten umgehen sollte:

„Trotzdem ließ sich dort nichts über die Möglichkeit finden, eine Fremde im Schlaf zu beobachten, die dann erwacht und uneingeladen vor der Haustür steht.“

Die große Überforderung Sundays scheint Vita nicht zu bemerken und so geht sie mit ihr um, wie sie offensichtlich immer mit Menschen umgeht. Und Sunday kann sich nach und nach auf diese ungewöhnliche Person einlassen, weil sie sich von ihr angenommen, zumindest nicht ausgegrenzt fühlt. Ihre Essens- und Trinkgewohnheiten werden akzeptiert, es wird kein großes Tamtam daraus gemacht, wie sie es gewohnt ist. Es kommt zu regelmäßigen Treffen, bestimmte Rituale und Reihenfolgen werden eingehalten und Sunday freut sich zunehmend über und mit Vita, bis sie bemerkt, welche Veränderungen ihre Tochter mitmacht und sie das Gefühl hat, nach und nach verdrängt zu werden, und beobachten muss, wie Dolly ihre Stelle bei Vita einnimmt.

Der Roman weist eine detailreiche Beobachtungs- und Darstellungsgabe auf, das Leben einer autistischen Frau nuanciert und nachvollziehbar zu erzählen und Verständnis für ihre Nöte und Schwierigkeiten, mit anderen Menschen klar zu kommen, zu wecken, das man nicht aufbringen kann, wenn man – wie die meisten in Sundays Umgebung – die eigenen Weltwahrnehmung und Werte zum Maßstab für Beziehungen und alles andere macht.
Ein Roman erfordert die Bereitschaft, sich auf diese autistische Weltsicht einzulassen, die aufgrund der Fähigkeit, auch die kleinsten Details wahrzunehmen, stellenweise stark epische Züge aufweist, die denen nicht entgegenkommt, die an äußerer Handlung interessiert sind. Mit hat das Buch dennoch gefallen und halte es für lesenswert. Es ist ungewöhnlich interessant.

Viktoria Lloyd-Barlow, All die kleinen Vogelherzen, Roman, a.d. Englischen v. Sabine Längsfeld, Goya Verlag, Hamburg, 2024, 382 S., ISBN 978-3-8337-4796-0

4 Gedanken zu „Viktoria Lloyd-Barlow, All die kleinen Vogelherzen

  1. Diesen Roman möchte ich wohl auch gerne lesen, allerdings mag ich es überhaupt nicht episch. So werde ich mal in der Bücherei nachfragen.

    Abendgrüße aus dem Dorf

    1. Die Länge mancher Passagen haben mir zunächst auch nicht behagt, allerdings kann man sie ggf. auch als Ausdruck ihrer Art der Wahrnehmung lesen.
      Grüße aus Speckhorn zurück – ebenfalls Dorf in der Stadt

  2. Ich stelle mir vor, dass das Lesen dieses Buches eine Herausforderung ist. Aber von Interesse ist eine solche für uns total ungewohnte Persönlichkeit schon.
    Danke für deine Besprechung,
    Einen lieben Morgengruss, Brigitte

  3. Ja, ich betrete mit jedem Buch andere Welten und genau das ist für mich interessant, vor allem, wenn’s dann auch noch sprachlich gut daherkommt, um so besser.
    Herzliche Morgengrüße

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