Lev Tolstoj, Familienglück
„Wir trugen Trauer um die Mutter, die im Herbst gestorben war, und verbrachten den ganzen Winter allein auf dem Land, Katja, Sonja und ich. … Gegen Ende des Winters hatte dieses Gefühl von Melancholie, Einsamkeit und schierer Langeweile solche Ausmaße angenommen, daß ich mein Zimmer nicht mehr verließ, das Klavier nicht mehr öffnete und kein Buch mehr zur Hand nahm.“
So beginnt der Roman „Familienglück“ von Lev Tolstoj, geschrieben aus der Ich-Perspektive der noch sehr jungen Maša, die sich in ihren sehr viel älteren Vormund Sergej Michajlyc verliebt und hofft, ihn heiraten zu können, obwohl dieser glaubt, das Thema „Liebe“ schon hinter sich gelassen zu haben. Eine Heirat kommt für ihn dementsprechend nicht in Frage.
Mašas romantische Vorstellungen von Liebe und Ehe lassen bereits früh erahnen, dass diese in der Realität keinen Bestand haben werden, egal, wen sie heiratet. Sie malt sich ihre Zukunft als ein beschauliches Eheleben auf dem Lande in Rhythmus der Jahreszeiten aus, unterstützt von täglichen religiösen Ritualen, die in Handlungen christlicher Nächstenliebe münden. Das ist ihr Inbegriff von Zukunft. Eine andere als Frau hat sie zu der Zeit wohl auch nicht wirklich.
„Ich glaubte, wir beide würden ein endloses, ruhiges Glück zu zweit finden. Dabei schwebten mir weder Reisen ins Ausland noch die mondäne Welt oder Prunk und Glanz vor, sondern ein ganz anderes beschauliches Familienleben auf dem Lande, in ewiger Selbstaufopferung, in ewiger Liebe zueinander und in dem immerwährenden Bewußtsein des Vorsehung, die alles gütig und helfend lenkt.“
Sergej allerdings befürchtet, dass ihr das Leben mit ihm auf Dauer nicht genug sein wird und wehrt sich vehement gegen seine aufkeimende Zuneigung zu Maša als Frau, die über die natürliche Zuneigung zur ihr als Vormund hinausgeht. Er befürchtet, dass sie – auch aufgrund ihrer Jugend – glaubt, an den gesellschaftlichen Ereignissen in der Stadt teilnehmen zu müssen, die ihm zuwider sind. Erfahrungen, die er nicht mehr machen muss. Durch ihre regelmäßigen Kontakte kommen die beiden sich dann doch näher und heiraten.„Ich spürte, dass ich ganz sein war und glücklich im Gefühl seiner Macht über mich.“
Aber genau das macht ihr dann im Zusammenleben mit ihm zu schaffen, sie fühlt sich von ihm als Kind behandelt und nicht ernst genommen. Zudem setzt ihr der Alltag mit der ständig anwesenden Schwiegermutter, den Gewohnheiten und Strukturen auf dem Gut ihres Mannes zu:
„Am schlimmsten aber war es für mich zu spüren, wie mit jedem Tag die Gewohnheiten unser Leben in eine bestimmte Form preßten, wie unser Gefühl unfrei wurde und sich dem gleichmäßigen, leidenschaftslosen Lauf der Zeit unterordnete. … Ich brauchte das nicht, ich brauchte den Kampf; ich wollte das Gefühl über unser Leben und nicht das Leben über unser Gefühl bestimmen lassen.“
Also verbringen sie doch die Wintersaison in Petersburg. Maša fühlt sich durch die Resonanz, die ihre Anwesenheit in der Gesellschaft von Petersburg hervorruft, aufgewertet und bemerkt die zunehmende Entfremdung zu ihrem Mann zunächst nicht. Ihre Ehe gerät in eine bedrohliche Krise, zumal die beiden nicht wirklich miteinander reden. Jeder interpretiert Handlungen, Gestik und Mimik und das Schweigen des anderen aus seiner Perspektive, ohne im Gespräch zu überprüfen, ob sie nur der eigenen Fantasie geschuldet ist und der Realität entspricht oder nicht. Das ist in vielen heutigen Ehen sicher nicht anders.
„‚Warum hast du deine Macht nicht benutzt‘, fuhr ich fort, mich nicht gefesselt, nicht getötet? Das wäre besser für mich gewesen, als nun alles zu verlieren, was mein Glück ausmacht.'“ Immer noch naiv auf der Glückssuche, möchte sie, dass alles wieder so wird, wie es zu Beginn ihrer Ehe gewesen ist. Sergej dagegen weist sie auf ihre Verantwortung für ihre eigenen Handlungen hin und darauf, dass sie ihre eigenen Erfahrungen hat machen müssen „um zum Leben selbst zurückzufinden; man kann nicht auf andere vertrauen.“
Die beiden bleiben letztendlich zusammen, aber die „Liebesgeschichte“ war nach Mašas Ansicht beendet:
„das alte Gefühl der Liebe zu den Kindern und zum Vater meiner Kinder begründete ein anderes, aber auf ganz andere Weise glückliches Leben, das ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht zu Ende gelebt habe …“
Die von Dorothea Trottenberg neu übersetzte Romanausgabe ist in jeder Hinsicht ansprechend: Leinenausgabe im handlichen Kleinformat mit Lesebändchen, einer erfrischend modernen Übersetzung, die dem Roman trotz der manchmal vielleicht antiquierten Ansichten über das Zusammenleben von Mann und Frau einen modernen Anstrich gibt. Bei den Ansichten bin ich mir gar nicht mal so sicher, ob und inwiefern sie nicht in vielen Ehen noch vorherrschend sind, vor allem aber, sich in Konfliktsituationen aus dem Weg zu gehen.
Im Nachwort erfahren wir dann von der Übersetzerin, inwieweit diese Liebesgeschichte autobiografische Züge hat und auf gewisse Art und Weise eine Vorübung für seine Romana „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ ist.
Lev Tolstoj, Familienglück, Roman, Deutsch von Dorothea Trottenberg, Dörlemann Verlag 2018, 191 S., ISBN 978-3-03820-062-8