Philippe Besson, Hör auf zu lügen
Der faszinierende Roman, „Hör auf zu lügen“ spielt in den Jahren 1984, als alles begann zwischen den beiden Gymnasiasten Philippe, Sohn eines Schuldirektors, und Thomas, Sohn eines Winzers, 2007 als Philippe, inzwischen fernsehbekannter Schriftsteller zufällig Thomas Sohn Lucas das erste Mal in einem Hotel in Bordeaux trifft, wo er sich auf einer Lesereise aufhält, und 2016, in dem die beiden sich ein zweites Mal treffen, dieses Mal verabredet in einem Cafe in Paris.
Ich habe diesen gerade Roman nahezu „in einem Rutsch“ gelesen. Besson schafft es, den Leser in seine Geschichte hineinzuziehen, deren Faszination er sich kaum entziehen kann. Und das gefällt mir.
Es ist vordergründig zunächst die gesellschaftlich verbotene, tabuisierte, verpönte und daher heimliche Beziehung zwischen den beiden jugendlichen Protagonisten, beide heranwachsend, ihren eigenen Platz in der Welt suchend. Etwas, was in diesem Alter immer mit Schwierigkeiten, mit Sinnfragen, mit Fragen nach dem Eigenen in der Gesellschaft verbunden ist und dem Wunsch geliebt und gesehen zu werden, besonders in der Enge dörflicher und religiös sehr geprägter Umgebung. Dort ist es sicher noch schwieriger, das Eigene zu finden und zu leben, wenn es nicht öffentlich gemacht werden darf.
Erzählt wird ausschließlich rückblickend aus der Perspektive des Ich-Erzählers Philippe, so dass er seine spätere Entwicklung zum Schriftsteller, seine Motivation, seine Art zu schreiben, nämlich den Leser spielerisch nahezu immer im Unklaren zu lassen, was nun genau Realität und was Fiktion ist, seine Mutter nannte es immer „seine Lügen“.
Ihm ist sein Anderssein, über das seine Mitschüler heftig spekulieren, schon recht früh bewusst.
„Das stimmt, ich ‚mag Jungen mehr.‘
Doch ich bin noch nicht fähig, diesen Satz auszusprechen.
Meine Neigung habe ich früh entdeckt. Mit elf wusste ich es. Mit elf hatte ich verstanden. …
Später also schlägt mir die Brutalität entgegen, die dieser mutmaßliche Unterschied hervorruft. … Um auf diese Rohheit nicht reagieren zu müssen, schweige ich. Aus Feigheit? Vielleicht. Notgedrungen eine Methode, um mich zu schützen. Doch niemals werde ich wankelmütig. Niemals werde ich denken: Ich tue Schlechtes, oder: Ich hätte besser wie alle anderen werden sollen, oder: Ich werde lügen, damit sie mich akzeptieren. Niemals. Ich stehe zu dem, was ich bin. Gewiss nur still. Doch in entschlossener Stille. Stolz.“
Philippe und Thomas treffen sich heimlich, kennen sich in der Öffentlichkeit nicht, was für Philippe zunehmend ein Problem wird. Er will seine Liebe, seine Beziehung zu Thomas öffentlich zeigen können, so wie alle anderen auch. Doch er weiß genau, dass genau das das Ende der Beziehung zu Thomas bedeuten würde, der da seinen ganz rigorosen Standpunkt hat. Immerhin machen sie später gemeinsame Motorradtouren oder treffen sich im Kino. Gegen Philippes Wunsch, mit der zum Abitur geschenkten Kamera ein Bild von Thomas machen zu wollen, hat Thomas überraschenderweise nichts einzuwenden.
„Auf diesem Foto trägt er Jeans, ein kariertes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hat, er hält noch den Grashalm in seinen Fingern. Und er lächelt. Ein unmerkliches, einverständiges Lächeln; liebevoll, glaube ich. Etwas hat mich noch lange danach, wenn mein Blick auf das Bild fiel, erschüttert. Was mich weiterhin erschüttert, wenn ich diese Zeilen schreibe und ihn auf dem Tisch , dort, direkt neben meiner Tastatur betrachte. Was es ist, weiß ich jetzt. Ich weiß, Thomas hat diesem einzigen Foto zugestimmt, weil er verstanden (entschieden) hatte, dass dies unser letzter gemeinsamer Moment wäre. Er lächelt, damit ich sein Lächeln mit mir nehmen konnte.“
Die Ferien erleben die beiden – wie immer – in verschiedenen Regionen. Das was bisher auch so. Doch Philippe bemerkt:
„Alles, wie es sich gehört.
Nur, dass T. mir fehlt. Er fehlt mir fürchterlich. Und das ändert alles. Haben Sie bemerkt, wie die schönsten Landschaften reizlos werden, sobald unsere Gedanken es vereiteln, sie gebührlich zu würdigen?“
Doch nach seiner Rückkehr ist alles anders. Thomas bleibt in Spanien und Philippe verlässt seine Heimatstadt Barbeziex, um in Bordeaux zu studieren. Die beiden werden sich nie wieder sehen, dennoch bleibt Zeit ihres Lebens eine (innere) Verbindung bestehen.
Der Leser, der immer wieder mal vom Ich-Erzähler direkt angesprochen wird, kann durch die gewählte Perspektive Philippes Gedanken, Emotionen und Gefühle in der Entstehung der Beziehung, während dieser Zeit und nach dem Ende nachvollziehen und nacherleben. Zeitweilig leidet man vielleicht sogar mit, denn das Thema der Ichfindung, der Gefahr der emotionalen Abhängigkeit in Beziehungen ist eine allgemein menschliche Frage, nicht zwangsläufig die des Geschlechts. Über die Frage, ist das, was die beiden erleben, reines Begehren, Verliebtheit oder Liebe, warum ist heißer Sex, aber Zärtlichkeit kaum möglich, darüber kann man mit Philippe „gemeinsam“ nachdenken.
Ich wünsche diesem Roman, der in Frankreich mit dem Publikumspreis „Prix Maison des Presse“ ausgezeichnet worden ist, auch in Deutschland viele Leser.
Philippe Besson, Hör auf zu lügen, C. Bertelmann-Verlag München 2018, 156 S., ISBN 978-3-570-10341-8
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