Szczepan Twardoch, Kälte

Szczepan Twardoch, Kälte

Schon Twardochs Roman „Der Boxer“ war ein Roman, in dem Gewalt zwischen Menschen breiten Raum einnahm, allerdings nicht – wie man vermuten könnte – aus einer Freude an Gewalt, sondern als wesentliches Element dessen, was dort erzählt werden sollte, musste.

Ähnlich ist es bei diesem Roman „Kälte“. Zwischenzeitlich ist mir beim Lesen der Gedanke durch den Kopf geschossen, ob man nicht diesen Roman mit einer Triggerwarnung versehen müsste, wie bei Filmen. Aber gibt’s das auch für Romane?

Doch der Reihe nach. In eine Rahmenhandlung eingebettet erzählt Konrad Widuch – eingeschlossen in einem vom Packeis festgehaltenen Schiff – einer imaginären Leserin seine bewegte Lebensgeschichte.

Er ist im November 1918 beim Matrosenaufstand in Kiel dabei und geht dann mit Karl Radek, einem Trotzkisten, und der überzeugten Revolutionärin Sofie, die er später heiratet und mit ihr zwei Kinder bekommt, aus Überzeugung nach Russland, „ins Vaterland des Weltproletariats“. Sie bleiben auch noch, als Radek sich Stalin unterwirft, ziehen sich dann eher ins Private zurück und werden dennoch nicht verschont. Sofie flieht mit den beiden Kindern und Konrad Widuch landet im Gulag, einem Ort, dessen Namen auszusprechen oder gar niederzuschreiben er sich konsequent weigert. Dort erlebt er die Grausamkeiten des Regimes und dessen Wärter, die sich kaum beschreiben noch wirklich begreifen lassen, wie Menschen in der Lage sind, Menschen solche Gewalt anzutun. Später kann er dann fliehen:

„Warum flieht denn ein alter Bolschewik, ein ehemaliges, aber trotzdem Mitglied der Kommunistischen Partei, aus dem Lager, in das die eigene Partei ihn nach Paragraf 58 gesteckt hat? Sollte ein alter Bolschewik nicht unbedingt auf die Partei hören? Hat die Partei nicht immer recht? (…) Aus dem Lager floh ein Mensch. Aber bin ich ein Mensch?“

Dass er ein Mensch ist, ist m.E. nicht zu bezweifeln. Nur, was er erlebt auf der Flucht, erst mit dem von ihm aus Rache und Vergeltung für seine Gewalttätigkeiten im Lager zum Krüppel gemachten Gabaidze, nachdem er zwei Wärter überwältigt und getötet, ihre Werkzeuge, Pferde, Gewehre und Munition an sich genommen hat, später dann mit Ljubow, einer wenn’s sein muss skrupellosen und gewaltbereiten Diebin, ebenfalls auf der Flucht vor den Russen, das lässt mich manchmal fragen, ob das noch menschlich ist.
Doch in der eisigen Kälte der Taiga ist Über-Leben ohne Gewalt offensichtlich nicht möglich. Jeder ist jedem Feind, bis zu dem Zeitpunkt, da so etwas wie vorsichtiges Vertrauen entsteht, da man instinktiv weiß, dass man gemeinsam vielleicht mehr Chancen hat.

Alle drei werden von den Mitgliedern eines Urvolkes als Gäste aufgenommen und leben dort eine zeitlang, passen sich den teilweise gewaltsamen Gebräuchen dieses Stammes an, die von Russland nichts wissen, so wie auch Russland von diesem archaischen Volk noch nichts weiß.
Auch dieses Lebens wird von Widuch ausführlich und detailreich geschildert – in der ganzen Bandbreite, mit der gesamten dort vielleicht lebensnotwendigen Gewalt gegen Mensch und Tier – für ihn gibt es keine Tabus beim Erzählen, denn:

„Die Erzählung hat ihre eigenen Gesetze, wenn man schon so viel von ihr erzählt, bestimmt die Erzählung, wie es weitergeht, nicht der, der schreibt, nicht Konrad bestimmt, sondern die Erzählung weiß selber, wie sie sich erzählen soll.“

Das bedeutet auch, dass Widuch nicht linear erzählt, sondern vorgreift, sich erinnert, zeitebenen vermischt, immer wieder seine imaginäre Leserin anspricht, obschon er davon überzeugt ist, dass die in Logbücher eingetragene Erzählung nie jemand zu lesen bekommt. Er muss erzählen, um in der Einsamkeit nicht den Verstand zu verlieren.

Ja, und dann tauchen eines Tages zwei russische Forscher auf, die mit ihrem Flugzeug in der Nähe des Urvolkes landen – mit weitreichenden Folgen für alle:

„Wenn Russland hierherkommt, dann weißt du, dann kommt es unaufhaltsam, grausam, gleichgültig und gleichgültig grausam, wie eine Sturmflut, eine Lawine und hinterlässt nichts als Brandreste und Knochen.“

Da das Volk keine Kenntnis von Russland und seinem Diktator hat, setzen sich Widuch und Ljubow über die bestehenden Gesetze des Stammes hinweg, was das Gemeinwesen spaltet, so dass sich ein großer Teil des Stammes auf die Flucht machen muss, die viele nicht überleben. Am Ende dieser Flucht stößt Widuch – inzwischen völlig auf sich allein gestellt – im Packeis auf das Schiff S/Y Invincible mit seinen zwei Bewohnern, die ihn bei sich aufnehmen. Dort beginnt er dann mit der Aufzeichnung seiner Lebensgeschichte.

Für mich als Leserin in vielfacher Hinsicht eine Herausforderung sowohl, was die geschilderten Grausamkeiten, als auch die Erzählweise und die sprachliche Darstellung betrifft. Widuch schreibt, wie ihm der „Schnabel“ gewachsen ist. Das ist nicht wirklich das Problem, er benutzt – natürlich – Begrifflichkeiten, die z.b. Alltagsgegenstände dieses Volkes betrifft, die mir als Leserin unbekannt sind. Sie sind kursiv gedruckt, doch vergeblich sucht man nach einem Glossar. Zudem muss man sich auch in der Begrifflichkeit der Seefahrt auskennen, sonst liest man entweder darüber hinweg oder fragt ständig „Mr.Google“ und Ko.

Lichtblicke für Leser und Widuch sind die Passagen, in denen sich Widuch an seine Frau Sophia erinnert, vor allem an die Momente ihrer innigen Vereinigung:

„Meine Sofie zum Beispiel war ihr Körper, sie war eins und einig mit ihm, und wenn wir miteinander schliefen, verschmolz sie ganz mit meinem Körper, und wir wurden für einen Moment eins. Deshalb flirtete Sofie nie, weder mit mir noch mit irgendjemandem, sie verführte nicht, neckte nicht. In all diesen Mann-Frau-Spielen, in denen ich nie gut war, geht es immer um das Schillern zwischen Verheißung und Erfüllung, bei Sofie aber war alles einfach. Sofie wollte mich, Konrad Wilgelmowitsch, wozu sollte sie da dieses menschliche Locktheater vor mir aufführen? Das tat sie nicht. Andere wollte sie nicht, das weiß ich und bin sicher, wozu hätte sie dann etwas versprechen sollen, verführen, um es nicht einzuhalten? Sie war die Einfachheit selbst.“
Nur sind solche Passagen sehr selten.

Mich lässt das Buch ratlos und fröstelnd zurück. Ich weiß nicht einmal, wem ich dieses Buch empfehlen könnte. Ob es „große Literatur“ ist, vermag ich nicht zu beurteilen, dass es auf jeden Fall „erschütternd, ja radikal“ kann ich nur bestätigen.

Szczepan Twardoch, Kälte, Roman, a.d. Polnischen v. Olaf Kühl, Rowohlt Berlin, 2024, 428 S., ISBN 978-3-7371-0188-2

2 Gedanken zu „Szczepan Twardoch, Kälte

  1. Du meine Güte. Ich bewundere dich, dass du durchgehalten hast bei diesem schwer zu ertragenden Stoff.
    Nein, lesen möchte ich sowas ganz sicher nicht. Ich befürchte, danach traumatisiert zu sein…
    Dennoch dankeschön für die Besprechung und liebe Grüsse in den ruhigen Tag,
    Brigitte

  2. Es ist mir wahrlich schwer gefallen. Doch ich habe da ein Prinzip: Ich bespreche keine Bücher, die ich nicht wirklich ganz gelesen habe.
    Inzwischen bin ich allerdings bei der Auswahl der Rezensionsexemplare vorsichtiger. Im Moment halte ich mich zurück.
    Herzliche Grüße

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