Tom Rob Smith, Kind 44

Tom Rob Smith, Kind 44

„Da Maria beschlossen hatte zu sterben, würde ihre Katze sich allein durchschlagen müssen.“ Mit diesem Satz beginnt der Thriller 1933 in einem sowjetischen Dorf. Pavel hat die von Maria freigelassene Katze gesehen und will sie fangen. Seine Mutter Oksana befiehlt ihm, seinen Bruder Andrej mitzunehmen. Eine folgenschwere Entscheidung. Denn Andrej kehrt allein zurück. Zwanzig Jahre später kehrt Jora in Moskau nach einer Schneeballschlacht ohne seinen Bruder Arkadi zurück, der vor ihm weggelaufen ist. Später wird seine Leiche gefunden, grausam verstümmel. Für die Eltern ist es Mord.
Doch: „ES GIBT KEINE KRIMINALITÄT“ in der Sowjetunion, denn sie ist dekadentes Merkmal kapitalistischer, westlicher Gesellschaften. Und so müssen die Eltern mit aller Macht und Gewalt davon abgehalten werden, auch weiterhin von Mord zu reden. Leo Stepanowitsch Demidow, Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes MGB, soll diese Aufgabe übernehmen und er übernimmt sie, zunächst ganz im Sinne der stalinistischen Doktrin. Gleichwohl säen die entschiedenen Worte der Großmutter: „Dieser Bericht ist eine Lüge“ Zweifel in Leo, denn er enthält Unrichtigkeiten, die auch Leo auffallen, die aber nicht sein dürfen. Das Ganze wird als Unfall zu den Akten gelegt.

Nachdem Leo durch die Intrigen eines seiner Widersacher beim MGB degradiert und mit seiner Frau in die Verbannung geschickt worden ist, erfährt er von weiteren Morden, die alle nach dem gleichen Schema vorgenommen, aber so weit über das Land verteilt sind, dass niemand Zusammenhänge hat herstellen können, selbst wenn er die Doktrin der fehlenden Kriminalität missachtet hätte. Leo will den Mörder dieser Kinder finden und nimmt dafür sogar mehrfach in Kauf, dass er sein Leben und das seiner Frau aufs Spiel setzt. Er erfährt am eigen Leib die Foltermethoden, denen er vorher als Offizier selbst dann Menschen hat aussetzen lassen, wenn er von deren Unschuld überzeugt war, wohl wissend dass er sonst selbst als Verräter oder Spion in die Fänge der Maschinerie geraten wäre.  Und dennoch hat er seinen eigenen Fall nicht verhindern können. Unbeirrt setzt er sein Wissen und Können ein, um die vielen Morde aufzuklären. Er will den Mörder eigenhändig zur Strecke zu bringen.

Dieser Thriller mit verschieden ineinander verwobenen Handlungsabläufen, deren Verwobenheit man aber erst im Laufe der Geschichte merkt, es sei denn man hat ein gutes (Namens-) Gedächtnis, erzählt nicht nur von der brutalen Ermordung von 44 Kindern, sondern legt gleichzeitig ein beredtes Zeugnis der stalinistischen Ära der Sowjetunion ab, mit ihren Bespitzelungs-, Folter-, Vernichtungsmaschinerien, den weit verbreiteten Arbeitslagern, den von der Außenwelt abgeschotteten Städten, dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des Ausgeliefertsein der Menschen, die nahezu alles mit sich machen lassen (müssen), nur um am  Leben zu bleiben, einem Leben das ihnen nicht einmal lebenswert erscheint. Und dennoch schaffen es Leo und seine Frau Raisa nur mit Hilfe einfacher Dorfbewohner, ihrem Ziel näher zu kommen.
Ein packender Thriller, nichts für schwache, empfindsame Leser. Ich habe den Roman mehrfach zur Seite legen müssen. Doch ich wollte wissen, wie er endet.

Tom Rob Smith, Kind 44, Thriller, a.d. Englischen von Armin Gontermann, Köln 2008, 508 S., ISBN 978-3-8321-8056-0

 

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