Hegen und Pflegen

Hegen und Pflegen

Erwin Wurm, Big Psycho 10, Messing lackiert – zu sehen im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden

Als meine Sorge zur Welt kam, hegte und pflegte ich sie mit zärtlicher Liebe. Wie alles Lebende wuchs sie, wurde stark und schön und war voll wunderbarer Freuden.

Wir liebten einander, meine Sorge und ich, und liebten die Welt rings um uns. Denn meine Sorge war freundlich, und ich war freundlich zu ihr. Wenn wir miteinander sprachen, meine Sorge un dich, vergingen die Tage im Flug, und wundervolle Träume schmückten unsere Nächte. Denn miene Sorge hatte eine beredte Zunge, und ich redete viel mit ihr. Wenn wir miteinander sangen, meine Sorge und ich, saßen die Nachbarn an den Fenstern, denn unsere Lieder waren tief wie das Meer, und unsere Melodien riefen ferne Erinnerungen zurück. Wenn wir miteinader auf die Straße gingen, meine Sorge und ich, blickten die Leute uns wohlwollend nach und flüsterten uns die schönsten Sachen…

Aber wie alles Lebende starb meine Sorge, und nun bin ich mit meinen Gedanken allein. Jetzt tönen meine Worte plump in meinen Ohren. Keine Nachbarn kommen, um meine Lieder zu hören. Niemand blickt mir nach, wenn ich über die Straße gehe. Nur im Schlaf höre ich mitleidige Stimmen sagen: „Seht, hier liegt der Mann, dessen Sorge gestorben ist.“

(Khalil Gibran)

4 Gedanken zu „Hegen und Pflegen

  1. Ob ich wirklich so eng mit der Sorge verbunden sein möchte?, ich denke eher nicht.
    Jede Sorge, die ich beiseite legen kann, gibt mir ein Gefühl der Erleichterung. :–)
    Wahrscheinlich sterben wir, wie der Mann von Gibran, zusammen mit all den oft unnötigen Sorgen…

    Spannend, das Bild mit dem „Big Psycho“.

    Lieben Gruss, nicht ganz sorglos,
    Brigitte

  2. Für mich ist dieser Text fein ironisch und zeigt die Tendenz bzw. Vorliebe mancher Menschen auf, ihre Sorgen als Ausdruck von Liebe zu pflegen, statt ihre Berechtigung zu überprüfen bzw. nach Lösungen zu suchen. Und genau deswegen gefällt mir dieser Text.
    Herzliche, fast sorgenfreie Grüße zu dir.

  3. Ich hinterfrage Sorge ebenfalls.
    Sorge ich mich intensiv um jemand anderen, dann ist es an mir, mich zu prüfen, ob ich ihm gewisse Lösungskompetenzen eventuell nicht zutraue. Darauf wurde ich einmal hingewiesen – und darüber habe ich nachgedacht.
    Des öfteren habe ich auch mit Eltern zu tun gehabt, die Sorge als Ausdruck von Zugewandtheit verstanden haben – und nicht bemerkt haben, wie sehr sie ihr Kind in den Entwicklungen gehemmt haben.
    Deshalb ja, statt Sorgen zu wälzen, ist es weitaus fruchtbarer, nach Lösungen Ausschau zu halten.
    Liebe abendliche Grüße, C Stern

  4. Sich sorgen ist energiefressend, vor allem verändert es meist die Situation nicht.
    Doch für manche scheint es eine Art Bindeglied, Klebstoff für Beziehungen zu sein.
    Liebe Grüße

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