Annie Ernaux, Der junge Mann

Annie Ernaux, Der junge Mann

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

Die Liebesbeziehung der Mitte Fünfzigjährigen mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann hat also bereits ihr Ende gefunden. „Ich arbeitete ohne Unterbrechung an meiner Erzählung und parallel dazu, mittels einer entschlossenen Distanzierung, an der Trennung. Zwischen ihr und dem Ende des Buches lagen nur wenige Wochen.“

Im Grunde genommen schreibt die Ich-Erzählerin nicht wirklich über die Beziehung zu diesem jungen Mann, der seltsam blass bleibt, sondern das, was diese Beziehung mit ihr macht, über Erinnerungen an vergangene Erlebnisse, die wieder hochkommen. Auf der einen Seite erfährt sie eine bis dahin noch nie erlebte Leidenschaft:

„Er begegnete mir mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.“
Auf der anderen Seite ist er für sie die „verkörperte Vergangenheit„, denn er kommt aus dem Milieu mit all seinen Attitüden, aus dem sie sich als Jugendliche mühsam befreit und das sie hinter sich gelassen hat.

„Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin. … Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens.“

Zunehmend erlebt sie das „Gefühl der Wiederholung.“ Es sind also nicht die schrägen, empörten Blicke ihrer Umgebung, wenn sie für Außenstehende sichtbar als Paar in der Öffentlichkeit auftreten und damit gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, im Gegenteil: Genau das genießt sie mit einem „Triumphgefühl“ ,sondern der zunehmend stärkere Eindruck, sie „könnte Bilder, Erfahrungen, Jahre anhäufen, ohne etwas anderes zu empfinden als ein Gefühl der Wiederholung.Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch. Er zog von Rouen nach Paris.“

Das war’s. Keine Aussprache, nichts.

Es ist ein nur 41 Seiten langer/kurzer Roman, der sehr prägnant und in Kürze sie persönliche Sicht einer älteren Frau mit einem jüngeren Liebhaber schildert, sondern auch die gesellschaftlich immer noch vorherrschenden Konventionen kritisiert, die Frauen mit jüngeren Liebhabern abschätzig behandeln. Die Zeilen über das Balzverhalten älterer Frauen, die ihren Platz auf dem Partnermarkt kennen, ist ziemlich treffend dargestellt.
Eine kurzweilige Lektüre mit Tiefgang.

Annie Ernaux, Der junge Mann, a.d. Franz. v. Sonja Finck, Berlin 2023, 41 S., ISBN 978-3-518-43110-8

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