Annie Ernaux, Die leeren Schränke

Annie Ernaux, Die leeren Schränke

Während Studentin Denise Lesur, Ich-Erzählerin dieses Romans, in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts in ihrem kleinen Studentinnenwohnheimzimmer darauf wartet, dass die Engelmacherin, bei der sie war, erfolgreich gearbeitet hat, der Fötus also abgeht, erinnert sie sich an den Weg, den sie bisher gegangen ist: von ihrem Elternhaus, einem Mix aus Küche, einem Schlafzimmer, offenen Räumen, die in die väterliche Kneipe auf der einen und den mütterlichen Krämerladen auf der anderen Seite übergehen, mit einem Plumpsklo im Hinterhof, über die Jahre in der Schule und dem zunehmenden Wunsch, sich von diesem Kosmos abzunabeln und in Paris zu studieren.

Sie begegnet im Rahmen dieser Erinnerungsarbeit ihrer mit den Jahren zunehmend größer gewordenen, tief sitzenden Wut. Sie will:

„Klar sehen, zwischen zwei Krämpfen alles erzählen. Sehen, ab wann alles den Bach runterging. Ich bin ja nicht mit dieser Wut zur Welt gekommen, ich habe sie nicht immer gehasst, meine Eltern, die Kundschaft, den Laden … die anderen, die Kultivierten, die Professoren, die ehrbaren Leute hasse ich mittlerweile auch. Ich habe den Bauch voll von ihnen. Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles, was ich gelernt habe. Von allen Seiten gefickt …“

Sie erlebt das Elternhaus zunächst als einen Kosmos, in dem sich viel beobachten, entdecken und erobern lässt, mehr oder weniger frei, in dem, was sie macht, ihre Fantasie auslebend, wild und bestimmend. Doch mit der Zeit, spätestens mit Schuleintritt, merkt sie, dass es neben dem elterlichen Kosmos eine Welt gibt, in der es andere Werte, andere Normen, Verhaltensregen, ästhetische Maßstäbe und sogar eine andere Sprache gibt, von der sie bisher keine Ahnung hatte. Sie eckt an, fällt auf, fühlt sich ausgegrenzt und möchte doch so sehr dazugehören.
Sie beobachtet, ahmt nach, probiert und lernt zunächst, dass ihre guten Noten – meist ist sie Klassenbeste – eine Möglichkeit ist, sich Anerkennung und Respekt zu verschaffen. Später dann sind es Kontakte mit älteren Jungen, die ihr Ansehen bei ihren Mitschülerinnen verschaffen sollen.

Und sie beginnt, die Welten miteinander zu vergleichen, von einander abzugrenzen, mit dem Ergebnis, dass sie sich nirgends mehr dazugehörig fühlt. Der Hass auf das Sosein, das Soleben ihrer Eltern wird zunehmend größer. Sie wünscht sich andere Eltern, entfremdet sich ihnen immer mehr. Die von ihr geforderte Dankbarkeit, anzuerkennen, dass ihre Eltern ihr mit ihrer Arbeit erst ermöglicht haben, zur Schule zu gehen, sie nicht gezwungen zu haben, mit spätesten vierzehn einer Arbeit nachzugehen, die kann sie nicht aufbringen. Sie lebt im Widerstand:

„Vierzehn Jahre alt, und die Welt gehörte mir nicht mehr. Meinen Eltern und meiner Herkunft fremd, wollte ich sie nicht mehr ansehen. Nur noch meine Wutausbrüche und meine Schuldgefühle verbanden mich mit ihnen.
Am schlimmsten war, dass ich mich in der Schule, unter den anderen Mädchen, ebenfalls fehl am Platze fühlte. Dabei tat ich alles, um dazuzugehören.“

Auch als (Literatur)Studentin unter anderen Studierenden bemerkt sie die feinen Unterschiede. Sie empfindet sich immer noch als „Wirtstochter“, als „Bildungsaufsteigerin“, als „armes Würstchen“, das Angst vor der Welt hat, zu der sie aber unbedingt dazugehören möchte. Und wieder passt sie sich an, ahmt nach bis zu einem Grad, der sie selbst zunehmend anwidert, lässt sich von Kommilitonen herabsetzen, demütigen, nur um in bestimmten Kreisen Eingang zu finden. Sie fragt sich sogar, ob ihr Literaturstudium nichts weiter ist als „ein Symptom der Armut (ist), der Klassiker, um seiner Herkunft zu entfliehen. Von Kopf bis Fuß eine Täuschung, wo ist meine wahre Persönlichkeit?“

Bisher hat sie im Außen, in Romanen nach Vorbildern gesucht, sich u.a. für eine „Heldin aus einem Roman von Françoise Sagan“ gehalten, als Studentin mit einem Geliebten, glaubt, sie lebe fast wie Simone de Beauvoir, will werden wie ihr Geliebter, von dem sie nun schwanger ist:

„Er hat alles, woran es mir fehlt, Leichtigkeit, Redegewandtheit, ein erfülltes leben voller wichtiger Dinge, Schallplatten, Segelausflüge, de Gaulles Pressekonferenz, Eltern mit Persönlichkeit. Ich werde nie genug Zeit haben, das alles aufzusaugen.“

Im Wohnheim liegend und wartend dämmert es ihr allerdings, dass und was sie alles „kaputtgemacht“ hat und fragt sich:
„Was, wenn ich nur seinetwegen, nur ihretwegen, der Bildungsbürger wegen dabei bin, mir die Scherben der Demütigung aus dem Bauch zu ziehen, um mich zu rechtfertigen, mich zu unterscheiden, was, wenn die ganze Geschichte falsch wäre …“
Keine unpassende Frage, vielleicht der Beginn einer anderen Suche.

Die Autorin Annie Ernaux jedenfalls hat das Schreiben als ihre Möglichkeit entdeckt, Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen ihres Lebens in sehr autobiografischen Romanen zu verarbeiten und für „Der junge Mann“ ja auch 2022 den Literaturnobelpreis bekommen.

Doch so sehr ich die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie schätze, so beginnt doch mein Interesse, mich in die Lebenswelt der Protagonisten von Annie Ernaux zu begeben, nach der Lektüre zahlreicher ihrer Romane zu erlahmen. Es wiederholt sich und die Erkenntnisse werden nicht unbedingt tiefgründiger.

Annie Ernaux, Die leeren Schränke, a.d. Franz. v. Sonja Finck, Berlin 2023, 218s., ISBN 978-3-518-22549-3

8 Gedanken zu „Annie Ernaux, Die leeren Schränke

  1. Deine Rezension spricht mich sehr an, Mona Lisa.
    Ob das beim Buch selber auch so wäre, kann ich nicht sagen.
    Mein Vorteil wäre wohl, dass ich auch die vorausgehenden Romane nicht kenne…
    Danke für die feine Buchbesprechung und lieben Montagmorgengruss,
    Brigitte

  2. In keines der Bücher dieser Autorin bin ich bisher so richtig eingestiegen, ihr Ton spricht mich nicht an. Das würde auch bei diesem Buch so bleiben, glaube ich.
    Gruß von Sonja

  3. Das Drehen und Wenden und das Abwägen von vielen Dingen des Lebens, die von so einigem erfüllte Wut, die sich auch über das Elternhaus zieht, könnten mich tatsächlich zum Buch greifen lassen.
    Stellenweise fühle ich mich an meine eigenen Rebellionen erinnert …

    Ernaux‘ Verarbeitungen vieler persönlicher Erfahrungen und Gefühle sind sicherlich in thematischer Hinsicht packend, es wird Zeit, da genauer hinzuschauen, was ich mir ja schon länger vorgenommen hatte, genau wegen Deiner Rezensionen.
    (Und dann komme ich wieder an offenen Bücherschränken vorbei – und finde soviel Lesenswertes.)

    Herzliche Grüße mit viel Sonnenschein schicke ich auf den Weg!

    1. Es gibt ja auch so viel Lesenswertes – und für manche Bücher muss man auch bereit sein. So habe ich seit Jahren Bücher von Jon Fosse im Regal stehen, jetzt, angeregt durch den Literaturnobelpreis, beginne ich mit der Lektüre und bin ganz angetan.
      Demnächst mehr hier auf diesem Blog.
      Mit Sonnenstrahlen garnierte Grüße

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