Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer

Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer

Der Titel ist eher irreführend, zumindest für mich. Ich bin mit der Erwartung an den Roman herangegangen, etwas über „Nettes kurzen Sommer“ zu erfahren, in dem sie als Person im Mittelpunkt steht. Der Roman umfasst allerdings einen Zeitraum von 1817-1821, immerhin vier Jahre, also nicht nur einen Sommer.

Der Roman beginnt mit Anmerkungen der Autorin über ihre Quellen und ihren Umgang damit und weist den Leser einerseits auf die historische Bezogenheit des Romans hin und andererseits auf die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit literarischer Freiheiten.

Danach begegnen wir dem Studenten Straube und dem Freifräulein Annette von Droste-Hülshoff in trauter Gemeinsamkeit, die aufgrund der damaligen Standesunterschiede so gar nicht hätte sein dürfen:

„Es war früh am Morgen. Der Himmel hing tief, und die sonne war kraftlos und hing noch tiefer. Aus einem Buchenwald traten ein kleiner, grundhässlicher Mann namens Heinrich Straube und ein zartes, sehr blondes und etwas glotzäugiges Freifräulein. …
Man schrieb das Jahr 1819. Die Lebensverhältnisse änderten sich mit bis dahin unbekannter Geschwindigkeit. Dampfmaschinen pumpten, hämmerten und walzten … und die ersten Spinngeräte produzierten mit rasendem Geklapper mehr Garn in einer einzigen Stunde als zehn Spinnerinnen an einem Tag verdrehen konnten. Die Wirtschaft blühte, das Bürgertum war im Kommen. Nun zählten nicht mehr allein die Herkunft, sondern auch die Leistung. … Der Adel richtete sich ein in bürgerlicher Beschaulichkeit. Und Straube – nun, Straube war durchaus bereit, die Standesschranken in umgekehrter Richtung zu überspringen und das adelige Fräulein an seiner Seite zu küssen.

Er sieht in der Verbindung zu Annette so etwas wie Seelenverwandtschaft, die sich von Standesgrenzen nicht stoppen lässt. Da Annette sich nicht sträubt, glaubt er: „Sein Glück war gemacht.“

Doch Annette, die so überhaupt nicht den standesgemäßen Vorstellungen von einer jungen Frau entspricht – sie ist in ihrer Eigenständigkeit zu denken, Ansichten in Frage zu stellen, sich ungefragt mit einer eigenen Meinung in Männergespräche einzumischen – ständig „Stein des Anstoßes“. Ihre Verwandten befürchten, dass sie sich aufgrund ihres Benehmens, die Chance verbaut, einen passenden, d.h. standesgemäßen Mann zu finden. Und das ist gewiss nicht der mittellose, dazu noch protestantische Straube. Dieser wird zwar von vielen aufgrund seiner Texte als Genie, ähnlich dem damals verehrten Goethe, angesehen, aber nicht als ein passender Mann für Annette.

Doch Annette denkt gar nicht daran zu heiraten und die Pflichten einer Ehefrau und Mutter zu erfüllen. Sie interessiert sich für „Männerthemen“ für „richtige“ Literatur und nicht für die für Damen passenden Magazine. Sie sucht Kontakt zu Freunden, die ihre männlichen Verwandten, besonders ihren Onkel Werner besuchen, weil sie sie interessanter findet als sich mit ihren Geschlechtsgenossinnen über Handarbeiten etc. auszutauschen. Dieser Onkel scheint Annette allerdings zunehmend als Konkurrentin zu empfinden und beginnt im Hintergrund Intrigen einzufädeln.

Der Roman bewegt sich insgesamt im Außen der Personen, man erfährt einiges über Annettes Verwandtenbesuche, über die Beschwerlichkeit damaliger Reisen, einen längeren Kuraufenthalt mit ihrer Oma und ausschweifend viel über das Studentenleben ihres Onkels Werner, der Kontakt zu einigen Geistesgrößen seiner Zeit hat, u.a.zu den Gebrüdern Grimm.

Es ist eher ein historischer Gesellschaftsroman, in den die Romanfiguren integriert sind, als ein Roman, in dem man viel über Annette selbst erfährt. Man erlebt sie überwiegend aus der Perspektive ihrer Verwandten, liest von deren ständigen Zurechtweisungen, aber wenig, was das alles mit Annette macht, die sich immer wieder in sich zurückzieht. Nur was dann wirklich in ihr vorgeht, erfährt man zu wenig. Das bleibt der Phantasie des Lesers überlassen – aber vielleicht ist das ja auch gut so. Es geht zumindest ab dann einfacher, wenn man den vorliegenden Roman so akzeptiert, wie er ist und sich von den eigenen Erwartungen gelöst hat.

Dann hat man auf jeden Fall Spaß und Freude an den ironischen, oft sakrastischen Bemerkungen des Erzählers, vor allem an den vielen Neologismen oder historischen Wörtern, die heute vielfach in der Versenkung verschwunden sind.

Karen Duve, Fräulein Nettes kurzer Sommer, Roman. Galiani Verlag, Berlin 2018, 581 S., ISBN 978-3-86971-138-6

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