Sahra Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau

Sahra Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau

Im Kunstanstifter Verlag ist dieser großformatige Roman Sarah Knausenbergers erschienen, der Roman einer ungewöhnlichen, unsteten Kindheit, illustriert von Elke Ehninger und ausgestattet mit einem leserfreundlichen farbigen Lesebändchen. Text und Illustrationen gehen – wie bereits in „Wenn ich Flügel hätte“ – eine sich jeweils ergänzende, verfeinernde, gelungene Symbiose ein.

Sie ruft, liegt, wartet,
deine Kindheit.

Sie lacht, weint, summt,
bis du endlich
zurückkommst
und sie dich wieder
kleiden kann.

Diese Zeilen der Autorin sind sind dem Roman vorangestellt, der mit Mias Schulabschluss beginnt, der Ich-Erzählerin:

„Ich wollte das Gefühl noch einmal auskosten, nie wieder in die Schule zu müssen. Weg mit den auswendig gelernten Geschichtsaufsätzen, weg mit den Matheformeln und den dreitausendachthundert Russischvokabeln! …
Ich … pflückte eine der Mohnblumen. Diese seidig knallrote Blüte mit den schwarzen Haaren in der Mitte. So schön. Aber so fragil. Sie schwankte in meiner Hand. Ohne die stabilen Ähren, die sie im Feld gestützt hatten konnte sie sich kaum halten.“

Ab da erzählt Mia dann linear – als Rückblick – ab dem Augenblick, als ihre Mutter eine Anzeige in der TAZ mit der Überschrift „Fliegen statt kriechen“ liest, in der eine Wildmohnfrau mit Tochter einen Schmetterling sucht:

„Hast du es auch satt, für Männer auf dem Boden zu kriechen? Lass uns gemeinsam die Flügel ausbreiten und in die Freiheit fliegen. Nur motorisierte Frauen. Bitte in Stuttgart abholen.“

Mias Mutter packt das Notwendigste und ihre fünfjährige Tochter in ihren blauen Bulli, verlässt ihren Mann und fährt zur Wildmohnfrau, bei der, mit der sie ab diesem Zeitpunkt zusammen in einer kleinen Wohnung lebt. Wirklich Platz ist für die beiden da nicht. Für Mia ist bei der Wildmohnfrau alles so anders, so fremd: der Duft in der Wohnung, das Essen, die Menschen, die dort ein- und ausgehen. Vor allem vermisst Mia ihren Papa.

Beide Frauen sind für die kleine Mia nicht wirklich Fixpunkte, die ihr ein Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Wärme geben können. Zu vieles ist in Bewegung. Doch da sind wenigstens Toni, die Tochter der Wildmohnfrau, und später dann auch noch Mias Hund Hera treue Begleiter:

„Statt eines klassischen Elternhauses hatten wir nun zwei Mütter. Es war, als hätten wir am Morgen im Sandkasten verstanden, dass unsere Mütter die Loyalität zu ihren Töchtern gegen die Loyalität zueinander getauscht hatten. Es war ein Schmerz, der uns zusammenschweißte und der auch verlangte, dass wir uns gegenseitig vor den eigenen Müttern schützten.“

Doch auch wechselnde Männer, (ungeplante) Schwangerschaften der beiden Frauen, häufige Wohnungswechsel ziehen bedeutsame Veränderungen nach sich, von der Mia ganz besonders betroffen ist. Toni dagegen bleibt mit ihrer Mutter zumindest in der gleichen Wohnung.

Für Mia vertiefen diese Wechsel zunehmend ihr Gefühl von Unsicherheit und Heimatlosigkeit, denn ihrer Mutter entfremdet sie sich immer mehr, da diese für sie im Grunde fast gar nicht mehr greifbar ist, weder physisch noch psychisch.

Mia macht in ihrer Kindheit und Adoleszenz Erfahrungen – angefangen von männlichen, sexuellen Übergriffigkeiten, dem berechtigten Gefühl, bei ihrem Vater mit seiner neuen Frau und dem gemeinsamen Kind nicht mehr willkommen zu sein, dem Unterkommen bei einem auf der Straße lebenden Punkt – die man einer Heranwachsenden in diesem Alter nicht wirklich wünscht.

Und dennoch sind da auch immer wieder Menschen, die ihr wohlgesonnen zur Seite stehen, ihr Potential erkennen und fördern, so dass sie – nach einigen zeitlichen Unterbrechungen – doch noch ihr Abitur macht und über das Schreiben einer Projektarbeit erkennt, dass sie im Land der Wörter eine Heimat gefunden hat:

„Ich fuhr durch die Straßen und wusste plötzlich, dass ich jetzt für immer ein Zuhause hatte. Ich, die ich von keiner Stadt mehr als zwei Straßennamen kannte, weil ich nie lange genug blieb, ich, die ich nie ein eigenes Zimmer hatte und mit elf Jahren allein unterm Weihnachtsbaum saß, ich hatte meine Heimat gefunden. Sie war groß und grün, weitläufig und vertraut und konnte nie überschwemmt werden. Denn das Land der Worte steht über allem.“

Ihr Fazit, das schon am Beginn des Romans zu lesen ist, lautet:

„Wenn wenige Worte ein Leben aus den Angeln heben können, muss es doch auch mgöch sein, es mit Worten wieder einzurenken.“

Elke Ehnigner begleitet diese Kindheits- und Adoleszenerfahrungen mit eigenwilligen, im breiten Spektrum der Farbe Rot angesiedelten Illustrationen und Text-Auszügen aus botanischen Lexika, die verschiedene Pflanzen, ihre jeweiligen Wachs-, Standort-, Blüh- und Vermehrungsbedingungen darstellen. Dabei gehen Mensch und Pflanze oftmals eine eigenwillige Symbiose ein.

Den LeserInnen obliegt es, Zusammenhänge zum Text herzustellen.

Sarah Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau. Buchgestaltung Franziska Walther, Roman, Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2023, 168 S., ISBN 978-3-948743-25-3


4 Gedanken zu „Sahra Knausenberger, Elke Ehninger, Die Wildmohnfrau

  1. o whow, schon wieder ein tolles buch! ich erinnere mich gern an „wenn ich flügel hätte“, das ich mir kaufte. und nun sind zwei der frauen schon wieder in einem neuen projekt zu entdecken. wahrscheinlich schick ich dem buchdealer meines vertrauens ganz bald eine mail… danke!
    lieber gruß
    Sylvia

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